This document is also available in english: Flatten the curve, grow the care: What are we learning from Covid-19

Questo documento ha una versione in italiano: Riduci la curva, aumenta la cura: cosa abbiamo imparato da Covid-19

Hay una versión de este documento en español: Aplanar la curva, aumentar el cuidado: Qué estamos aprendiendo del Covid-19

Eine Einladung, beim gemeinsamen Notieren mitzumachen

Dies ist ein kollektives Unterfangen. Es ist darauf ausgerichtet - angesichts der Dringlichkeit, die Care-Praktiken und -Strategien durch die Coronavirus-Pandemie (SARS-Cov-2) gewinnen - das Organisieren von Solidarität zu dokumentieren und aus verschiedenen Ansätzen zu lernen. Die erste Runde von Notizen, Gedanken, Protokollen, Vorschlägen und Sessions, die hier publiziert ist, spiegelt schwerpunktmässig die Erfahrungen in Italien während der vergangenen Wochen wieder. Im Einklang mit dem Fokus des Pirate-Care-Syllabus konzentrieren wir uns auf jene Praktiken, die Pflege, Arbeit, Technologie und ziviles Ungehorsam in den Vordergrund stellen. Die hier gesammelten Notizen bestehen aus praktischen Vorschlägen und einordnenden Reflektionen. Sie möchten als Inspiration für die Organisation und das Leben mit dem Ausbruch über Italien hinaus wirken. Des Weiteren sollen sie dabei unterstützen, dringende Forderungen zu formulieren: Die Verschiebung von Gesellschaften, die von Kapitalismus, Produktivismus, Patriarchat und Rassismus dominiert sind, hin zu Gesellschaften, in denen die gemeinsame Aufgabe im Mittelpunkt steht, das voneinander abhängige Wohlergehen von Mensch und Natur neu zu gestalten.

Im Gegensatz zu den übrigen Themen dieses Pirate-Care-Syllabus verfolgt dieses Thema laufende, im Werden begriffene, Entwicklungen mit. Die versammelten Inhalte sind daher partiell und provisorisch – entstanden aus den italienischen, kroatischen und britischen Kontexten, in denen wir schreiben. Wir ermutigen jedoch andere, zum Aufbau eines größeren Korpus von Notizen beizutragen, die die Solidarität in der Zeit der Quarantäne dokumentieren. Bitte setzt euch mit uns in Verbindung und schlagt Praktiken und Strategien vor, die ihr gerne dokumentieren möchtet. Ihr könnt uns über die folgenden Kanäle erreichen:

Flatten the curve, grow the care

Die “Abflachung der Kurve” ist sowohl zu einem Leitprinzip für die Strategien des öffentlichen Gesundheitswesens als auch zu einem Aufruf geworden, der die Menschen zu aktiver Distanzierung auffordert. Die Ausbreitung des Virus sollte verlangsamt werden, so dass etwa 20% derer, die in ein Krankenhaus eingeliefert werden, und etwa 5% derer, die eine Intensivpflege benötigen, zu jedem Zeitpunkt zahlenmäßig niedrig genug bleiben, damit die Krankenhäuser über genügend Personal und Ausrüstung verfügen, um allen die besten Heilungs- und Überlebenschancen zu bieten. Die durch die exponentielle Ausbreitung des Virus haben die Gesundheitssysteme in Wuhan und in ganz Italien lahmgelegt, und das soll vermieden werden. Daher: “Flacht die Kurve ab”.

Wir sagen jedoch, dass “die Kurve abflachen” nicht ausreicht. Wir möchten nicht nur, dass die Ausbreitung der Seuche innerhalb der Kapazitätsgrenzen des Gesundheitssystems gehalten werden kann, sondern wir fordern auch, dass die soziale Krise, die aus der Reaktion auf die Pandemie und ihre Folgen resultiert, eine Neuausrichtung der Gesellschaften antreibt: Und zwar in Hinblick auf die Modalitäten und Kapazitäten von Care. Dies ist etwas, das unserer Meinung nach in den hier dokumentierten Praktiken und Organisationsformen bereits vorweggenommen ist. Daher: “Wachsende Pflege”.

Eine allgemeine Krise im Gesundheitswesen

Der Ausbruch des Coronavirus hat die Schwächen des öffentlichen Gesundheitssystems aufgezeigt – etwa den Bettenmangel auf Intensivstationen und fehlende Beatmungsgeräte und Ventilatoren, um mit dem plötzlichen Anstieg der Infektionen fertig zu werden. Dies trägt zu einer erhöhten Sterblichkeit bei. In Italien ist das System so überlastet, dass die Notaufnahmen nicht in der Lage sind, sich rechtzeitig um akute Erkrankungen wie Herzinfarkte zu kümmern, und viele Operationen wurden verschoben, was zu vielen zusätzlichen (prinzipiell vermeidbaren) Todesfällen geführt hat. Auch zeitkritische Eingriffe wie etwa Schwangerschaftsabbrüche werden zur Zeit verschoben

Das medizinische Personal in den Krankenhäusern arbeitet unter kriegsähnlichen Bedingungen – unterausgerüstet, überlastet und überexponiert – was dazu führt, dass sich eine wachsende Zahl von Gesundheitspersonal infiziert wird, isoliert werden muss und Hilfe benötigt. Mitarbeiter im Dienstleistungssektor – insbesondere Reinigungskräfte, Pflegende, Hausangestellte, Zustelle_innen, Mitarbeitende in Lebensmittelgeschäften – wie auch viele andere, die nicht von zu Hause arbeiten können – sind der Gefahr einer Ansteckung ausgesetzt.

Die Verwundbarkeit vieler Risikogruppen trägt zur Krise bei. Da sind zunächst die älteren Menschen und diejenigen, die gesundheitlichen Problemen leben. Dann gibt es diejenigen, die als Migrant_innen ohne Papiere leben und denen die medizinische Versorgung verweigert werden kann (und verweigert wird). Diejenigen, die keine medizinische Versorgung haben und sich verschulden müssen, wenn sie Tests benötigen oder in Krankenhäusern landen. Diejenigen, die nicht in einem eigenen Haus leben: Obdachlose, Flüchtlinge, ältere Menschen in Altersheimen, Frauen in Frauenhäusern oder ausländische Studierende auf dem Campus. Aber auch viele, die es nicht vermeiden können, zu arbeiten: Reinigungskräfte, Arbeiter_innen in Lebensmittelgeschäften, in der Lebensmittelindustrie und im Transportwesen, Pfleger_innen – und Industriearbeiter_innen, die gezwungen werden, weiterzumachen, als sei nichts passiert.

Eine kombinierte Krise von Pflege, Arbeit und Umwelt

In den letzten Jahrzehnten wurde im Zuge der kapitalistische Entwicklung die öffentliche Aufgabe von Gesundheitssystemen weltweit privatisiert, de-finanziert und untergraben. Ausserdem wurden zahlreiche institutionelle und nicht-institutionelle Aspekte der sozialen Reproduktion, wie Putzen, Kochen, Kinderbetreuung, Altenpflege und Bildung, den Kräften des Marktes unterworfen und überlassen. Diese Sektoren sind von einem großen Heer von Arbeitskräften abhängig, das häufig aus Frauen und Migrant_innen besteht, die unter prekären Bedingungen arbeiten: d.h. niedrige Löhne, begrenzte Leistungen, Null-Stunden- oder Abrufverträge, informelle Vereinbarungen und Illegalität. Da die gesellschaftlichen Aufgaben der Fürsorge wurden der kapitalistischen Akkumulation untergeordnet wurden, sind diese Arbeitskräfte zunehmend fragmentiert und individualisiert worden. Ihre eigene Reproduktion wurde aus den Netzwerken der gegenseitigen Unterstützung und des sozialen Handelns gleichsam herausgeschnitten. Isolation ist hier bereits ein vorherrschender Zustand.

In den letzten vier Jahrzehnten haben die zoonotischen Sprünge der Viren vom Tier auf den Menschen um das Zwei- bis Dreifache zugenommen. Wie das Coronavirus, das von Fledermäusen zu stammen scheint (und auch bei anderen Tieren vorkommt), sind sie eine Folge des Eindringens der industriellen Landwirtschaft und des Ackerbaus in natürliche Lebensräume und der zunehmenden Einbeziehung wilder Arten in kapitalistische Lebensmittel-Warenketten. Denn degradierte Ökosysteme, deren Komplexität zugunsten der industriellen Landwirtschaft reduziert wurde, haben eine geringere Kapazität, die Ausbreitung von Epidemien zu stoppen. Dieser Effekt wird sich verstärken: Es ist zu erwarten, dass die planetarische ökologische Destabilisierung mit zunehmender Geschwindigkeit neue Krankheitserreger hervorbringen wird. Jüngste Studien unterstreichen auch den Zusammenhang zwischen der Schwere der Auswirkungen des Coronavirus und der Rate der Luftverschmutzung in den betroffenen Gebieten.

Für die Mehrheit der Menschen auf diesem Planeten, die aus Sicht des Kapitals als entbehrlich gelten, ist es seit langem die Norm, an Epidemien oder sogar an ganz gewöhnlichen Viren zu sterben. Die bereits bestehenden Bedingungen neokolonialer Armut, schlechter Gesundheit, Unterernährung und degradierter Lebensräume können Viren und Epidemien zu einer Waffe werden lassen. Man geht davon aus, dass 60 % der Todesfälle durch die Spanische Grippe in Westbengalen zu verzeichnen waren. Das Schlimmste ist jedoch, dass für viele dieser Krankheiten Heilmittel und Impfstoffe bekannt sind. Im Vereinigten Königreich beispielsweise liegt die Differenz in der Lebenserwartung zwischen den am reichsten und am ärmsten Geborenen heute bei 18 Jahren. Was das Coronavirus momentan (zumindest in Europa) bewirkt, ist eine klassenlose Variable in der Disposition der Pflegeleistungen: Im Moment ist es unmöglich, die Kranken – wer stirbt und wer nicht – entlang der üblichen Achsen der Diskriminierung zu trennen. Dieser Zustand wird nicht lange andauern.

Eine Krise der Häuslichkeit

Aufgrund der empfohlenen physischen Distanzierung und der Absage vieler öffentlicher Aktivitäten bleiben viele prekäre Arbeitnehmer_innen wochen- und monatelang ohne Arbeit. Eine Entschädigung für die Selbstisolierung gibt es vielerorts nicht. Zu Hause zu bleiben und dabei immer ärmer zu werden, ist eine schreckliche Perspektive. Zu diesen Menschen werden sich zahlreiche entlassene Arbeiter_innen gesellen.

Kinderkrippen, Kindergärten und Schulen werden geschlossen, was für viele Eltern, die arbeiten müssen, eine unmögliche Situation schafft. In vielen Fällen sind ältere Menschen, die am stärksten von der Pandemie bedroht sind, gezwungen, bei den Kindern zu bleiben. Dies trägt zur ohnehin schon emotional schwierigen Situation in Hausgemeinschaften und Familien bei.

Aber es gibt auch psychisch Kranke, Behinderte und Schwerstkranke, für die es nicht möglich ist, isoliert zu Hause zu bleiben. Und dann gibt es diejenigen, die mit häuslicher Gewalt konfrontiert sind, für die der Rückzug in die eigenen vier Wände gleichbedeutend mit unbegrenztem Missbrauch ist. Die Gewalt wird zunehmen, da weder Erwachsene noch Kinder ihre Interessen außerhalb des Hauses verfolgen oder sich sozialisieren können. In der Isolation zu verharren ohne dabei radikal umzudenken (etwa in Hinblick auf die Organisation von selbstbestimmter Arbeit, Freizeit und Geselligkeit), wird einen psychischen und körperlichen Tribut fordern.

Organisieren für eine alternative Zukunft

Es ist zu erwarten, dass die Pandemie die bereits instabile Weltwirtschaft ins Trudeln bringen wird. Dadurch werden wohl Maßnahmen zur Wiederherstellung der kapitalistischen Akkumulation ausgelöst. Diese könnten zu weiteren Kürzungen des öffentlichen Versorgungssystems, zum Abbau des Arbeitsschutzes, zur Schwächung von Zivilgesellschaften und zur Vertiefung von Ungleichheit und Armut führen. Auch könnten die Bemühungen zur Bekämpfung des Klimawandels und zur Anpassung an ihn, die zu vergleichbaren Katastrophen führen könnten, zurückgeworfen werden. Angesichts dieser Aussichten könnte sich ein Verlust der Organisationskapazität zur wirksamen Durchsetzung alternativer politischer Forderungen während des Ausbruchs als lähmend erweisen.

Wir durchleben eine Zeit tiefgreifender Veränderungen, die unsere gemeinsame Zukunft bis weit über die akute Notlage hinaus beeinflussen werden. Wir befinden uns in einer Periode der Beschleunigung, der Unsicherheit (die sich etwa auch in statistischen Vorhersagen ausdrückt), wir befinden uns aber auch in einer Zeit der temporären „Aufhebung“, des Innehaltens, der Verzögerung. Die Gestalt dessen, was kommen wird, ist nicht in Stein gemeißelt: Sie hängt von unseren gemeinsamen Überlegungen und von unserer Fähigkeit ab, politische Aktionen zu organisieren und ihnen Aus- und Nachdruck zu verleihen. Während und nach der Krise wird der Drang erwachen, einfach “zur Normalität zurückzukehren, und zwar schnell”. Und diese Tendenz, diese Hoffnung – so verständlich sie auf psychologischer und wirtschaftlicher Ebene ist – muss kollektiv verhandelt, diskutiert und gemeinsam „geheilt“ werden. Denn wir leben auch in einer Zeit, die uns einen Blick in eine alternative Zukunft gewährt.

Die Herausforderung heute und in der nächsten Zeit ist es und wird es sein, wie man den durch diese Mehrfachkrise hervorgerufenen Solidaritätsschub aufrechterhalten kann ¬– als eine Kraft, die die Menschen dazu motiviert, gemeinschaftlich Forderungen nach systemischen Veränderungen im Bereich des öffentlichen Gesundheitswesens und der Umwelt zu stellen, um die kapitalistische, Drang nach Wachstum, Geschwindigkeit und Konsum zu überwinden. Dieser letzte Punkt ist das, was uns im Hinterkopf geblieben ist, als wir, wie viele andere, begannen, einige der hier gesammelten Geschichten und Informationen zu filtern und zu sammeln. Die Erfahrungen und Beispiele, die hier miteinander verbunden sind, stammen aus verschiedenen Orten der Welt. Sie spiegeln den Geist des Internationalismus und Translokalismus – sind dies die Lehren, die wir aus dem Virus ziehen können?

Sessions

In diesem Teil des Syllabus befassen wir uns mit der Frage, welche unmittelbaren Möglichkeiten es gibt, den kritischen Bedarf an care zu decken, der durch Distanzierung, Isolation und Quarantäne entsteht oder noch grösser wird. Was sind kollektive und auf Gegenseitigkeit beruhende Wege, mit der Situation umzugehen? Das Folgende sind die Notizen, die Interventionen und Praktiken, die Reaktionen auf die Coronavirus-Pandemie dokumentieren:


Es gibt weitere Sessions in diesem Syllabus, um mehr über Praktiken der Pirate Care zu erfahren. Auch die darin behandelten Themen können dabei helfen, die momentane Situation zu verstehen und mit ihr umzugehen:

Beitragende

“Flatten the Curve, Grow the Care” wurde in Zusammenarbeit geschrieben und übersetzt von: Maddalena Fragnito, Valeria Graziano, Marcell Mars, Tomislav Medak, Zusammenarbeit Birmingham, Tomasso Petrucci, Dan Rudmann, Antonia Hernández, Rebekka Kiesewetter, Tobbias Steiner, Katja Laug, Janneke Adema.

Weiterführende Resourcen

Thematische Resourcen werden in den individuellen Sessions und auf der folgenden Seite geführt:Resources and texts on Coronavirus.


Die Pandemie interpretieren:


Politische Forderungen: