This document is also available in English: Organising a solidarity kitchen

Reflektionen der Kooperative Birmingham (GB) 1

Covid-19, eine “nicht-so-natürliche” Katastrophe

Die globale Covid-19-Pandemie wird von den Regierungen bekämpft und in den Medien mitunter auch als Naturkatastrophe dargestellt. Und in gewisser Weise haben sie Recht: Wie Wissenschaftler_innen vorhersagten, hat der rasche Wandel der klimatischen Bedingungen ein günstiges Umfeld für die Ausbreitung des Virus geschaffen. Aber auch andere Faktoren haben zur Krankheit, ihrer Übertragung und zur relativ hohen Sterblichkeitsrate beigetragen: Der globale Kapitalismus und die damit einhergehende hektische Bewegung von Menschen und Gütern; der endemische Mangel an Finanzierung der öffentlichen Gesundheitssysteme in vielen Ländern (oder schlichtweg deren Privatisierung); die kulturelle Neigung zu häufigen sozialen Kontakten; der fehlende Zugang zu grundlegenden Gütern wie gesunden Lebensmitteln oder sauberem Wasser und Luft. Kritische Geograph_innen entdeckten bereits vor Jahrzehnten, dass Naturkatastrophen nicht rein naturbedingt, sondern zu einem großen Teil sozial konstruiert sind. Oder wie es Neil Smith in seinem Bericht über den Hurrikan Katrina ausdrückt - Naturkatastrophen verursachen nicht nur wahllose Zerstörung, “sondern vertiefen und untergraben auch die Furchen der sozialen Unterschiede, auf die sie treffen”. 2

Durch Katastrophen zur Solidarität

Es gibt jedoch eine hoffnungsvollere Seite von Naturkatastrophen, die sich über zeitliche und geografische Skalen hinweg zu reproduzieren scheint: die Solidarität und Zusammenarbeit gewisser Teile der Bevölkerung. In Extremsituationen, in denen die soziale Ordnung vorübergehend gestört ist, neigen Menschen dazu, sich gemeinsam zu organisieren, um ihre Grundbedürfnisse zu befriedigen und ihr kollektives Überleben zu sichern.3 Auch wenn in allen Hilfsangeboten ein guter Wille steckt, beweist die aktuelle Situation, dass guter Wille allein nicht ausreicht. Ein offensichtlicher Mangel an Erfahrung mit politischer Partizipation und strukturierter Organisation beim Großteil der Bevölkerung verringert in Grossbritannien den Effekt gemeinschaftlicher Hilfeleistungen.

Nehmen wir als Beispiel die Facebook- oder WhatsApp-Gruppen, die geschaffen wurden, um die Bewohner_innen einer Straße oder eines städtischen Gebiets miteinander zu verbinden. Obwohl sie nützlich sein könnten, um einigen Menschen in Selbstisolierung den Zugang zu grundlegenden Gütern zu erleichtern, ist die Reichweite dieser Gruppen sehr begrenzt. Die Art von Solidarität, die in ihrem Rahmen gelebt wird, ist ausschließlich lokal, die Koordination zwischen den einzelnen Netzwerken ist mangelhaft. Darüber hinaus machen es Faktoren wie der ungleiche Zugang zu und die mangelnde Fähigkeit in der Nutzung von Technologie für einige schwierig oder unmöglich sich aktiv zu beteiligen. Letztlich neigen diese Gruppen dazu, von einigen wenigen Bewohner_innen übernommen zu werden, die die Interaktionen dominieren und/oder über die Reichweite der Gruppe - und damit auch ihre potentielle Wirksamkeit – bestimmen.

Die Struktur der Solidaritätsküche der Kooperative Birmingham

Wie eine Solidaritätsküche organisiert wird

Im Bewusstsein der vorhergehend beschriebenen Dynamiken und der Tatsache, dass Struktur und Zweck Schlüsselfaktoren für gegenseitige Hilfsbemühungen sind, hat die Kooperative Birmingham kürzlich mehrere Basisorganisationen und Arbeitnehmerkooperativen zusammengeführt, um eine Solidaritätsküche zu gründen. Finanziert mit Spenden, die über eine Online-Plattform 4 gesammelt wurden, bieten wir Menschen in Selbstisolation in Birmingham warme Mahlzeiten an. Wir stellen keine Fragen, wir nehmen kein Geld, wir praktizieren Solidarität ohne Bedingungen.

Sicherung des Zugangs zu einer professionellen Küche

Zwei infrastrukturelle Dimensionen sind für die Organisation der Solidaritätsküche der Kooperative Birmingham von grundlegender Bedeutung: die physische und die politische Infrastruktur. So selbstverständlich es auch klingen mag: Um gekochte Mahlzeiten anbieten zu können, braucht man eine Küche. Und je grösser und besser ausgestattet sie ist, desto mehr Mahlzeiten kann man anbieten. Der Schlüssel zum Erfolg des Projekts ist daher die Beteiligung des Warehouse Cafe, das als Arbeiterkooperative und Basis für mehrere linke und Umweltorganisationen organisiert ist. Durch die vorübergehende Schließung des Betriebs bei Ausbruch der Pandemie haben wir Zugang zu einer professionellen Küche erhalten.

Soziale Maßnahmen fördern die Solidarität

Auch viele der Arbeiter_innen des Cafés (einschließlich der Köch_innen), die derzeit beurlaubt sind, tragen mit ihrer Arbeit zu dem Projekt bei. Ausserdem unterstützen uns über 40 Freiwillige regelmäßig, indem sie Essen kochen, die Küche reinigen, Mahlzeiten ausliefern und im back office arbeiten. Diese ständig wachsende Gruppe setzt sich zu einem Grossteil aus Personen zusammen, die in der gegenwärtigen Situation nicht in der Lage sind, Lohnarbeit zu verrichten. Diese Tatsache zeigt, wie wichtig es ist, soziale Maßnahmen zu ergreifen, die auf die Deckung der Grundbedürfnisse von Arbeiter_innen ausgerichtet sind: Sie fördern die Solidarität und die gegenseitige Hilfe und haben eine Wirkung, die über das wirtschaftliche Kalkül hinausgeht.

Organisieren - horizontal, praktisch und offen

Was die politischen Infrastrukturen betrifft, ist die Organisationserfahrung der meisten unserer Mitglieder der Schlüssel für den Erfolg des Projekts. Wir arbeiten auf einer idealerweise horizontalen, aber faktisch geschichteten Struktur der Entscheidungsfindung. Entscheidungen werden durch eine Mischung aus Konsens und Dringlichkeit gefällt. Die wichtigsten Entscheidungen werden in offenen Online-Sitzungen getroffen, die in der Regel dreimal pro Woche stattfinden. Für kleinere Fragen im Zusammenhang mit der täglichen Arbeit haben wir Arbeitsgruppen gebildet, die ein gewisses Maß an Autonomie haben und denen spezifische Aufgaben zugewiesen werden. Die Auswertung und Diskussion der Arbeitsvorgänge in den offenen Sitzungen ermöglicht es allen Mitgliedern, einerseits über die allgemeine Ausrichtung des Projekts, andererseits aber auch über spezifische praktische Fragen nachzudenken.

Die fließende Interaktion zwischen den offenen Sitzungen und den Arbeitsgruppen vermeidet eine Machtkumulierung und stellt sicher, dass die politische Ausrichtung des Projekts auf dem richtigen Weg bleibt. Es ist wichtig anzuerkennen, dass alle unsere politischen Infrastrukturen offen sind, und wir ermutigen sowohl die freiwilligen Helfer_innen als auch die Benutzer_innen der Küche, sich einer Arbeitsgruppe anzuschließen und an den offenen Sitzungen teilzunehmen.

Kommunikation

Entscheidend für das reibungslose Funktionieren unserer politischen Infrastrukturen ist die Technologie. Wir unterhalten ein offenes Online-Forum5, in dem jede und jeder, der an einer Teilnahme an der Solidaritätsküche interessiert oder einfach nur neugierig darauf ist, einen Blick auf die Form unserer politischen Struktur werfen, einer Arbeitsgruppe beitreten und die Sitzungsprotokolle lesen kann. Wir nutzen auch soziale Medien: um Transparenz zu gewährleisten, um neue Nutzer_innen zu erreichen und um Freiwillige anzuwerben. Und natürlich stellen Instant-Messaging-Anwendungen eine dringend benötigte Brücke zwischen der politischen und der physischen Infrastruktur dar.

Stadträte, die soziale Dienste auf die Allgemeinheit auslagern

Unsere Solidaritätsküche funktioniert natürlich nicht immer perfekt, und wir versuchen, aus unseren Fehlern zu lernen und Lücken zu füllen. Es war schwierig, mit einer enormen Arbeitsbelastung über mehrere Ebenen der Beteiligung fertigzuwerden. Einige Organisator_innen standen bald vor einem Burnout. Der Stadtrat von Birmingham hat uns in eine sehr schwierige Situation gebracht, denn er weist jegliche Verantwortung von sich und überlässt es den Bürger_innen, mit der Krise umzugehen. Anstatt eine Hilfsaktion von ausreichendem Umfang durchzuführen, die den größten Teil der gefährdeten Bevölkerung in Birmingham erreichen würde, hat der Stadtrat die Menschen auf kommunale Bemühungen wie die unsere verwiesen. Bereits am zweiten Betriebstag der Solidaritätsküche, begann der Stadtrat damit, Anfragen direkt an uns weiterzuleiten. Dies bedeutete einen Anstieg der Versorgungsanfragen um über 500% – quasi über Nacht. Gleichzeitig erhielten wir einen Anruf eines Mitarbeiters der Stadtverwaltung, der uns Unterstützung für unsere Solidaritätsküche anbot. Doch unsere Aufgabe ist das Füllen von Lücken, nicht das Übernehmen von Aufgaben. Mittlerweile mussten wir die Nahrungsmittellieferungen auf etwa 100 tägliche Mahlzeiten begrenzen, und wir versuchen, neue Mitglieder einzubeziehen und Freiwillige zu rekrutieren, um die Nachhaltigkeit des Projekts und eine kontrollierte Ausweitung zu gewährleisten. In dieser Situation sind wir mit einer Verantwortung überfordert, die nicht auf uns fallen sollte und die in keinem Verhältnis zu unserer Kapazität steht, was sich auf unser physisches und emotionales Wohlbefinden auswirkt.

Eine Perspektive jenseits der gegenwärtigen Krise

Zugleich aber macht diese systemische Externalisierung sozialer Dienstleistungen auf die Bewohner_innen einer Stadt die Existenz politisierter gegenseitiger Hilfsprojekte wichtiger denn je. Denn es geht uns nicht nur darum, auf die aktuelle Krise zu reagieren, sondern wir müssen darüber hinausblicken. Was nach dem unmittelbaren Gesundheitsnotstand auf uns wartet, ist eine Wirtschaftskrise von beispiellosem Ausmaß, die das kapitalistische System, wie wir es kennen, verändern wird. Sozioökonomische Rekonfigurationen, die auf Katastrophen und Krisen folgen, bieten den Eliten traditionell “eine Gelegenheit, ihre Macht zurückzuerobern und sogar zu vermehren”.6 Dennoch stellt die Situation auch für uns eine Chance dar, die wir versuchen sollten, zu nutzen. Wir brauchen kollektive Unterstützungsorganisationen wie die Cooperation Birmingham, um zu starken alternativen Institutionen werden zu können. Nur so lässt sich die Macht der politischen Eliten unter der Arbeiterklasse umverteilen. Wir müssen eine wichtige Rolle bei der Ausarbeitung der neuen Regeln der kommenden Welt spielen. Eine Welt, die von der schlimmsten Wirtschaftskrise unserer Zeit und vom Klimawandel bestimmt wird, eine unsichere Welt, in der das ausgeklügelte System der sozialen Ordnung zu zerbrechen beginnt.7 Eine Welt der Hoffnung.

Fussnoten


  1. https://cooperationbirmingham.org.uk/ ↩︎

  2. Neil Smith: “There’s No Such Thing as a Natural Disaster” ↩︎

  3. Rebeca Solnit (2010). A Paradise Built In Hell. The Extraordinary Communities That Arise In Disaster. Penguin Books. ↩︎

  4. https://www.gofundme.com/f/cooperation-birmingham-mutual-aid-kitchen ↩︎

  5. https://forum.cooperationbirmingham.org.uk/ ↩︎

  6. Ashley Dawson (2017: 257). Extreme cities: The peril and promise of urban life in the age of climate change. Verso Books. ↩︎

  7. John Holloway (2010). Crack Capitalism. Pluto Press. ↩︎