This document is also available in English: Disability and chronic illness in the pandemic

Questo documento ha una versione in italiano: Disabilità e malattie croniche nella pandemia

Eine Geschichte des Kampfes gegen die Verfügbarkeit von behinderten Menschen

Uns Menschen mit Behinderungen oder chronischen Krankheiten wird seit langem und immer wieder die Versorgung verweigert. Egal, wo wir uns befinden, wir haben mit den Defiziten bei der medizinischen Behandlung, in der Anpassung der bebauten Umgebung, beim Zugang zu unterstützenden Technologien, in der persönlichen Betreuung und vielen anderen unerfüllten Anforderungen kämpfen. Gleichzeitig sind wir damit konfrontiert, dass uns Pflegeleistungen auferlegt werden. Wir müssen unsere Autonomie entgegen der familiären Überfürsorge, der erzwungenen Institutionalisierung und trotz der Segregation in spezialisierten Einrichtungen erkämpfen. Seit langem organisieren sich unsere Gemeinschaften und kämpfen darum, die doppelte - objektive und subjektive - Behinderung zu überwinden.

Sozialmodell der Behinderten- und Behindertenrechtsbewegung

Eine kritische Periode in der Geschichte der Behinderten- und Behindertenrechtsbewegung waren die 60er und 70er Jahre. Damals begann die Bewegung für die Rechte von Behinderten, Kritik am damals dominierenden medizinischen Modell, nach dem Behinderung definiert und klassifiziert wurde, zu üben. Das medizinische Modell1, das das frühere eugenische Modell ersetzte, sah Behinderung in erster Linie als ein individuelles Leiden an, das durch medizinische Intervention behandelt und durch spezialisierte Institutionen sozialisiert werden musste. Das medizinische Modell war insofern reduzierend, da es das individuelle Leiden nicht in seinem sozialen Kontext verstand. Damit wurde die Ausgrenzung unserer Gemeinschaften in den meisten Aspekten des sozialen Lebens aufrechterhalten.

Aus der Kritik am medizinischen Modell ging ein integratives, soziales Modell der Behinderung hervor2: Es berücksichtigt physische, sensorische, kognitive oder psychische Beeinträchtigungen so, wie sie in der sozialen Welt der physischen Barrieren, der Vorurteile, der Unsichtbarkeit und der fähigkeitspriorisierenden Arbeitssphäre in Erscheinung treten. Institutionelle, kulturelle und umweltbezogene Faktoren, die sich an nicht-behinderten Normkörpern orientieren, wirken zusammen und schränken Menschen mit Behinderungen bei der Verwirklichung ihrer Fähigkeiten und Bestrebungen ein. Nach dem integrativen und sozialen Modell sind es diese Prozesse der sozialen Behinderung – und nicht die Beeinträchtigung selbst – die Behinderung definieren. Von diesem erweiterten Verständnis von Behinderung ausgehend leitete die Behindertenrechtsbewegung in den 1970er Jahren einen Zyklus von Protesten, Kampagnen und anderen Aktionen ein. Sie wurde dabei von grösseren Initiativen wie der zivilgesellschaftlich organisierten Justizbewegung und der Arbeiterbewegung inspiriert und unterstützt. In Frage gestellt wurde etwa die Macht wirtschaftlicher Interessen und paternalistischer Institutionen bei der strukturellen Ausgrenzung von Behinderten, eine bedingungslose Anerkennung der Rechte von Behinderten und die Schaffung inklusiver institutioneller Rahmenbedingungen wurden verlangt. Menschen mit Behinderungen, so die Forderung, hätten das Recht, individuell und kollektiv ihre eigenen Bedürfnisse zu definieren und Anspruch auf ein unabhängiges Leben.

Ed Halls Fahne, ausgestellt im People’s Museum in Manchester

Radikales Modell der Behinderung und Kontinuität des Kampfes

Während Verfechter_innen des sozialen Modells anfangs die strukturelle Ausgrenzung im Allgemeinen und die ihr zugrundeliegenden Machtverhältnisse betonten, wurde der Fokus im Zuge der dahingehend erzielten Erfolge in den kommenden zwei Jahrzehnten zunehmend auf Behinderung (als ein von anderen Formen struktureller Ausgrenzung und Unterdrückung isoliertes Phänomen) gelegt. Die strukturellen Verflechtungen, die weiterhin nicht nur das Leben vieler Menschen mit Behinderungen, die Pflege und Unterstützung benötigten, sondern – in ganz unterschiedlichen Formen – auch jenes der gesamten erwerbsfähigen Bevölkerung bestimmten, wurden weitgehend ignoriert. Aufgrund dieser Unzulänglichkeiten des sozialen Modells entstand in den 1990er Jahren das radikale Modell der Behinderung. Es beruht auf dem Verständnis von Behinderung als nur einer von vielen verschiedenen Formen des Seins, und stellt die positive Identifikation und die Selbstbefähigung aller jener in den Vordergrund, die in einer von Normen geprägten Gesellschaft als queer, verkrüppelt und verrückt intersektional diskriminiert werden.

Wie dem auch sei, die Verwirklichung der Rechte von Behinderten, die im Rahmen des sozialen Modells formuliert wurden, bleiben auch in progressiven und wohlhabenden Kontexten eine Herausforderung. Letztendlich hing sie immer auch von unserer eigenen Fähigkeit ab, unser Leben in und mit der Abhängigkeit zu organisieren und uns gegen Diskriminierung, Bevormundung und Vernachlässigung zu mobilisieren. Und dies wird auch weiterhin der Fall sein. Das schmerzliche Bewusstsein, dass nichts erreicht werden kann, das uns nicht wieder weggenommen werden könnte, ist in unserem Slogan verankert, der auch als Warnung dient: " Nothing About Us Without Us!“.

Nach deiner langen Zeit des Kampfes und der Mobilisierung sollte insbesondere den Gesundheitsbehörden und politischen Entscheidungsträger_innen klar sein, dass wir – die Gemeinschaft der Behinderten und verbündete Gemeinschaften von Menschen mit chronischen Krankheiten, Adipositas oder Menschen mit durch Ausbeutung, Armut oder Arbeitslosigkeit geschädigten Körpern – nicht stillsitzen werden, während andere in der gegenwärtigen Pandemie für uns Entscheidungen treffen.

Die Pandemie und die Bedrohung unserer Leben

Die Weltgesundheitsorganisation3 schätzt, dass etwa 15% der Weltbevölkerung mit irgendeiner Form von Behinderung lebt. Viele dieser Menschen sind zusätzlich von sekundären Erkrankungen, Komorbiditäten, früherem Altern und vorzeitigem Tod betroffen. Diese Leiden werden durch unzureichende medizinische Versorgung, mangelnden sozialen Schutz, Arbeitslosigkeit, Armut und soziale Isolation noch verstärkt.

All diese Faktoren werden zu zusätzlichen Risikofaktoren in Epidemie-Situationen. Dies weil diese sozialen Determinanten der gesundheitlichen Ungleichheit die Voraussetzungen für eine schnellere Übertragung und eine höhere Morbidität und Mortalität schaffen.4 Mit dem Ausbruch der SARS-CoV-2-Pandemie, bei der Morbidität und Mortalität bei Menschen mit Grunderkrankungen besonders hoch sind, sind Menschen mit Behinderungen oder chronischen Krankheiten zur Zeit in einer Situation extremer Verwundbarkeit. Wir sollten es vermeiden, uns anzustecken.

Diese Verwundbarkeit kann durch Massnahmen des öffentlichen Gesundheitswesens und politische Entscheidungen auf verschiedene Weise noch verstärkt werden:

Die Unsichtbarkeit behinderter Menschen in den Richtlinien des öffentlichen Gesundheitswesens

Oft werden in den Maßnahmen, Protokollen und Mitteilungen des öffentlichen Gesundheitswesens werden die spezifischen Bedürfnisse von Menschen mit Behinderungen oder chronischen Krankheiten nicht ausreichend berücksichtigt.5 In einer Situation erheblicher Lebensgefahr werden wir wieder irrelevant und unsichtbar gemacht.

So werden wir in den Richtlinien öffentlicher Gesundheitsdienste typischerweise alle als “andere Risikogruppen” in einen Topf geworfen. Während die Behinderung und die chronische Krankheit oft mit der Aussicht auf eine eingeschränkte Mobilität und ein weitgehend auf das häusliche Leben beschränktes Leben einhergehen, sind viele von uns auf regelmäßige berufliche oder familiäre Unterstützung angewiesen. Deshalb können wir nicht einfach Distanz wahren und uns isolieren, wie es empfohlen wird. Da Pflegekräfte durch niedrige Löhne und prekäre Arbeitsverhältnisse oft dazu gezwungen sind, mehr als eine Person unterstützen und in mehr als einer Einrichtung arbeiten, sind sie selbst dem Risiko ausgesetzt, sich anzustecken und die Infektion auf uns zu übertragen.

Deshalb braucht es Protokolle, Beratung, Nachrichten und Hotlines im Bereich des öffentlichen Gesundheitswesens, die speziell darauf abzielen, das Infektionsrisiko für Menschen mit Behinderungen und jenen die sie unterstützen zu verringern. Außerdem müssen Maßnahmen zum sozialen Schutz eingeführt werden: Etwa um zusätzliche Unterstützungskräfte zu mobilisieren und zu gewährleisten, dass alle Unterstützenden - ob professionell oder nicht - während der Pandemie bezahlt werden und, im Falle einer Ansteckung, Krankengeld erhalten können.6

Darüber hinaus wird das Gefühl, dass Behinderung und chronische Krankheit durch inadäquate öffentliche Gesundheitsmaßnahmen und eine unzulängliche Berichterstattung kontinuierlich unsichtbar gemacht werden, zur Zeit noch verstärkt: Dies durch den Kontrast zwischen dem, was Gesellschaften bereit sind zu tun, um die spezifischen Bedürfnisse körperlich gesunder Menschen zu befriedigen, die momentan zu Hause leben und arbeiten und somit von der Arbeit anderer abhängig sind. Unter anderen Umständen, in Bezug auf unsere Leben, werden diese Bedürfnisse nicht gedeckt.

Verfügbarkeit medizinischer Güter und medizinischer Behandlung

Menschen mit Behinderungen oder chronischen Krankheiten benötigen häufig Sauerstoffflaschen, Beatmungsgeräte und Schutzausrüstung wie Masken und Handschuhe. Derzeit sind diese jedoch knapp. Wenn bei der Sicherung entsprechender Vorräte Menschen mit Behinderungen oder chronischen Krankheiten nicht zu den vorrangigen Empfänger_innen gehören, könnte dies die bestehenden Gesundheitszustände verschlimmern und die Anfälligkeit erhöhen.

Auch die Verwundbarkeit derjenigen unter uns wird erhöht, die für medizinische Behandlungen wie Dialyse oder Akuttherapien Krankenhäuser aufsuchen müssen. Die Krankenhäuser müssen in der Lage sein (und bleiben), diese Kapazitäten im Voraus zu planen und Vorkehrungen treffen, um die Risiken der Übertragung auf ambulante Patienten mit Behinderungen zu verringern. Dies könnte schwierig werden, wenn die Kapazitäten der Krankenhäuser überbeansprucht sind.

Am meisten gefährdet sind jedoch diejenigen unter uns, die sich in Pflegeheimen oder Wohneinrichtungen befinden. Diese Einrichtungen sollten einer strengeren Aufsicht unterliegen und über adäquate Verfahren verfügen – insbesondere wenn sie privat geführt werden. Dies würde dabei helfen, Fälle von massiver Vernachlässigung und das Ausscheiden von Pflegepersonal zu vermeiden, wie es Berichten zufolge in einigen Pflegeheimen in Spanien geschehen ist.

Depriorisierung und Triage

Da ein plötzlicher Anstieg des Bedarfs an Betten, Beatmungsgeräten oder medizinischem Personal das Gesundheitssystem zu überfordern droht, sind die Gesundheitsbehörden und Krankenhäuser gezwungen, Entscheidungen über die Zuweisung unzureichender Ressourcen an Patienten, die eine Intensivpflege benötigen, zu treffen. Prinzipiell werden jene, die aufgrund ihrer gesundheitlichen Grundkonstitution oder ihrer klinischen Aussichten geringere Heilungschancen haben, aus der Prioritätenliste gestrichen. Wie die erschütternde Situation in der Lombardei gezeigt hat, haben Ärzte keine andere Wahl, als bei der Triage zu entscheiden, wer ein Beatmungsgerät in Anspruch nehmen darf und wen sie sterben lassen sollen.7 Die Gefahr ist hier, dass Menschen mit Behinderungen oder chronischen Krankheiten implizit aus der Prioritätenliste gestrichen werden. In einigen US-Bundesstaaten wie Alabama und Tennessee wird in der Intensivpflege Menschen mit geistiger Behinderung oder spinalem Muskelschwund explizit die Priorität entzogen, da man davon ausgeht, dass ihr Leben weniger wert ist.8

Menschen mit Behinderungen oder chronischen Krankheiten werden doppelt de-priorisiert und es wird über sie verfügt: erstens wegen ihres größeren Bedarfs an medizinischer Versorgung und Behandlung, und zweitens – wenn es um die Intensivpflege geht – wegen ihrer gesundheitlichen Grundkonstitution. Aus diesen Gründen hat die American Association of People with Disabilities einen Brief an den Kongress geschickt, in dem sie “ein gesetzliches Verbot der Rationierung knapper medizinischer Ressourcen auf der Grundlage des erwarteten oder nachgewiesenen ressourcenintensiven Bedarfs” fordert.9 Sollte dem Postulat nicht stattgegeben werden, setzt sich die Diskriminierung Behinderter durch jene die Maßnahmen, die eigentlich darauf abzielen, Leben zu retten, fort.

“Nothing About Us Without Us!”

Während sich die SARS-CoV-2-Pandemie ausbreitet, mobilisieren und organisieren sich die Gemeinschaften der Behinderten und chronisch Kranken. Es ist ihnen bewusst, dass die Entscheidungsträger_innen und Institutionen ihre Verpflichtungen in Bezug auf Behindertenrechte schnell beginnen werden, zu vernachlässigen. Unsere Reaktion beschränkt sich nicht auf Maßnahmen von Regierungen und Institutionen. Wir tragen zu breiteren Solidaritätsnetzwerken bei, die kollektive Hilfe und gegenseitige Unterstützung organisieren und Menschen mit Behinderungen9, chronischen Krankheiten10 oder Krankheiten wie Adipositas11 beraten.

Angesichts der gefährlichen Folgen der Vernachlässigung ist es unerlässlich, dass wir uns mobilisieren, um von den Gesundheitsbehörden zu fordern, dass sie uns in die Entscheidungsprozesse einbeziehen, die letztlich über unsere Überlebenschancen entscheiden werden.

References


  1. Understanding Disability ↩︎

  2. Michael Oliver: “The Politics of Disablement” ↩︎

  3. Disability and health ↩︎

  4. Health Inequalities and Infectious Disease Epidemics: A Challenge for Global Health Security ↩︎

  5. ‘The Cripples Will Save You’: A Critical Coronavirus Message from a Disability Activist ↩︎

  6. People with a disability are more likely to die from coronavirus – but we can reduce this risk ↩︎

  7. The Extraordinary Decisions Facing Italian Doctors ↩︎

  8. ‘I Will Not Apologise for My Needs’ ↩︎

  9. COVID-19 Resources for the Disability Community and COVID-19 Disability Community Preparedness Resources (U.S. Based) ↩︎

  10. A Chronic Illness Patient’s Guide to Coronavirus ↩︎

  11. Fat-Assed Prepper Survival Tips for Preparing for a Coronavirus Quarantine ↩︎